Sucht und soziales Lernen

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Süchtiges Verhalten ist zunächst eine „am Modell“ erworbene Motivation, aus der wichtige Erkenntnisse über die neuronalen Mechanismen von Trieb und Anreiz entstanden sind. Obwohl für Süchte ein genetisches Risiko (Prädisposition) besteht, handelt es sich beim süchtigen Verhalten um ein erlerntes Verhaltensmuster, bei dem psychologische, biologische und soziopsychologische Faktoren eine dominierende Bedeutung haben. Die Aufrechterhaltung und die Rückfallwahrscheinlichkeit der meisten Süchte werden erheblich von zentralnervösen Prozessen beeinflusst. Die entscheidenden Determinanten von Sucht sind die positiv wie negativ verstärkende Wirkung einer Substanz und deren assoziative Wirkung auf vorausgegangene und gleichzeitig vorhandene Reize. Des Weiteren – wie bei anderen Verhaltenskategorien auch – sind sie abhängig vom Zeitverlauf der Einnahme. Sucht ist gelerntes Verhalten, an dessen Aufrechterhaltung neurochemische Vorgänge im ZNS einen wesentlichen Anteil haben. Protektive und Risikofaktoren bei der Entstehung von Suchtverhalten sind jedoch sozialer und nicht chemischer Natur. Weiter ist festzustellen, dass ein Süchtiger kein schwacher und schlechter Mensch ist, sondern vielmehr ein Mensch mit einer Gehirnerkrankung.

Die Hypersensitivitätstheorie

Die meisten Entzugssymptome lassen sich recht genau aus der Wirkung der Droge vorhersehen. Beim Nachlassen kommt es meist zu einer Umkehr der Drogeneffekte. Beispielsweise verlangsamt Heroin die Kontraktion des Magens und der Entzug bewirkt Magenkrämpfe; Nikotin steigert die Herzfrequenz, während der Entzug zu deren Verlangsamung führt; Amphetamin und Kokain wirken euphorisierend und lösen ein Gefühl manischen Wohlbefindens aus, wobei der Entzug schwere Depressionen verursachen kann.Angesichts dieser auffallend entgegengesetzten Wirkungen von Drogengebrauch und Drogenentzug wurde eine allgemeine Entzugs- und Suchttheorie entwickelt, die sogenannte Hypersensitivitätstheorie. Sie besagt, dass Körper und Gehirn stets versuchen, den Drogenwirkungen entgegenzuarbeiten, zumal der Körper normalerweise bestrebt ist, einen konstanten, optimalen, ausbalancierten inneren Zustand aufrechtzuerhalten. Entzugserscheinungen entstehen dadurch, dass der durch Rauschdrogen gestörte Körper versucht, dies durch gegenteilige Aktionen zu regulieren.

Craving

Eine psychische Abhängigkeit kann bei jeder Droge entstehen. Dann dreht sich das Leben eines Menschen so sehr um die Droge, dass seine Anpassungs- und Leistungsfähigkeit massiv beschränkt und/oder beein- Sucht und soziales Lernen trächtigt wird. Das Craving ist das zentrale Symptom einer Abhängigkeit, dessen Entstehung Sensibilisierungsvorgänge im Belohnungssystem zugrunde gelegt werden. Suchtkranke können, nachdem der körperliche Entzug abgeklungen ist, ein Leben lang gesteigert auf Suchtmittel ansprechen. Woran liegt das? Verhaltensweisen, die unserem Überleben dienen, lösen nachhaltig ein positives Gefühl aus. Diese werden zukünftig bevorzugt und im limbischen System als sehnsüchtige Erinnerung abgespeichert (Suchtgedächtnis). Zusätzlich werden Netzwerke gebildet, die sich, je öfter sie abgerufen werden, durch Aussprossung zusätzlicher Synapsen an den Neuronen verfestigen. In einem vorbelasteten, drogenerfahrenen Belohnungssystem kann es allein durch den Gedanken an Drogen bzw. eine bestimmte Droge schon zu einer geringen vorfreudigen Dopamin-Ausschüttung kommen.

Dieser Vorgang wird als konditioniertes Lernen, als Bahnungs- oder Habituationsprozess bezeichnet. „Habit Learning“ bezeichnet und beschreibt, dass ein Reiz eine überwertige Bedeutung erlangt hat. Dieser Reiz wird als Hinweisreiz, als „Cue“, bezeichnet und im dorsalen Striatum abgespeichert, wo unter anderem das Suchtgedächtnis vermutet wird. Ähnlich wie die Furchtkonditionierung in der Amygdala ist dieses „Habit Learning“ vergleichsweise löschungsresistent. Negative und positive „Cues“ spielen bei Suchtkranken eine große Rolle und können in vielen Situationen „angetriggert“ werden.

Tierversuche haben gezeigt, dass bei Lernprozessen im Sinne klassischer Konditionierungen oder Habituierungen neben beispielsweise einer positiven Drogenwirkung auch die Umgebung und die Situation um den Konsum herum gemeinsam mit dem Rauscherlebnis abgespeichert werden. Später reichen ähnliche Umgebungsmuster, um die gesamte Situation rund um den Konsum wieder aufleben zu lassen, ähnlich wie beim „Priming“, bei dem beispielsweise allein der Anblick einer Palme die Erinnerungen an den letzten Sommerurlaub wiederaufleben lässt.

Jemand, der Kokain in der Regel immer an der gleichen Stelle konsumiert, verbindet beispielsweise diese Umgebung mit den positiven, belohnenden Wirkungen des Kokains. Selbst nach einer Rehabilitation kann der Anblick dieses Ortes ein heftiges Verlangen auslösen. Beim Craving handelt es sich um einen durch die nachdrückliche Verstärkung der süchtig machenden Droge erlernten Effekt.

Oft wird nur anfänglich, jedoch bei einem Großteil der Süchtigen für Jahre oder gar ein Leben lang, eine Substitutionstherapie durchgeführt. Mittels eines verwandten Stoffes wird versucht, die durch den Konsum entstandene Disharmonie und Schädigung des natürlichen, filigranen Gleichgewichtes der Transmittersysteme auszugleichen. Nicht nur das Craving, sondern auch das Thema der Suchtverlagerung stellt, selbst wenn die Rauschdroge bereits seit langer Zeit abgesetzt wurde, für viele (ehemals) Abhängige eine massive Herausforderung dar. Der Verzicht auf das Suchtmittel birgt die große Gefahr, auf eine andere suchterzeugende Substanz umzusteigen oder bestimmte Tätigkeiten suchtartig auszuführen. Mit der Entdeckung des Opiatrezeptors wurde die einfache Theorie des „Opiatrezeptormodells der Sucht“ entwickelt, die basierend auf der oben angeführten Hypersensitivitätstheorie als Grundmodell für alle Formen der Abhängigkeit angesehen wird

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