Statement zur Amazon Prime Serie: „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“
Die Geschichte über Drogensucht und Prostitution unserer Namensgeberin der F-Foundation Christiane F. ist seit Februar 2021 als Serie bei Amazon Prime zu sehen.
Christiane F. – dieser Namen war Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre in aller Munde. Grund war das biografische Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, erschienen 1978, das am Beispiel der minderjährigen Christiane Felscherinow das Schicksal drogenabhängiger Kinder und Jugendlicher in Berlin schildert. Das Buch wurde zum Skandal, weil es aufzeigte, wie die Gesellschaft die Allerschwächsten – nämlich die Kinder und Jugendlichen – im Stich ließ.
Es war aus Interviews entstanden, die zwei deutsche Journalisten des Nachrichtenmagazins „Stern“ über Monate mit Christiane F. geführt hatten. Daraus ergab sich ein verstörender Bericht eines Mädchens, das mit 13 Jahren zum ersten Mal Heroin snieft, sich prostituiert und sich in der Drogenszene am Bahnhof Zoo in Berlin herumtriebt.
Der Regisseur Uli Edel verfilmte 1981 die Geschichte und sparte bei seinen, zur damaligen Zeit äußerst drastischen Schilderungen der Lebensumstände der heroinabhängigen Christiane F., keine Details aus. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ sorgte für einen Skandal. Sowohl das Buch als auch die Verfilmung des Materials brachte in der BRD eine gesellschaftliche Debatte in Gang. Die Schilderungen von Heroinsucht und Beschaffungskriminalität mitten in West-Berlin standen im krassen Gegensatz zur Selbstwahrnehmung einer Nation, die sich im wirtschaftlichen Wohlstand eingerichtet hatte.
„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ konfrontierte diese Gesellschaft auf schonungslose Weise mit einer ganz anderen Realität, die nicht nur hart auf menschliche Abgründe mit Thematiken wie Heroinsucht, Prostitution und Kriminalität verweist, sondern ganz klar das Leid von Kindern und Jugendlichen in diesem Milieu anspricht.
Die damaligen Reaktionen waren paradox: Einerseits gab es in der Öffentlichkeit einen großen Aufschrei darüber, dass eine wohlhabende Gesellschaft nichts gegen diese Zustände unternahm. Die in dem Buch erwähnten Freunde von Christiane sind an den Folgen ihres Drogenkonsums jämmerlich verreckt! Andererseits wurde den Produzenten der Verfilmung vorgehalten, Jugendliche zum Drogenmissbrauch zu verführen, weil sie das Leben der Kinder vom Bahnhof Zoo auf der Leinwand scheinbar verherrlichten.
Das Schicksal von Christiane F. führte die Bestsellerlisten an und war 95 Wochen lang an deren Spitze. Der Film entwickelte sich zu einem der erfolgreichsten deutschen Kino-Exporte aller Zeiten. Inzwischen haben sich die Wogen geglättet. Der Roman wird in vielen Schulen noch immer als Pflichtlektüre gelesen. Christiane schaffte es irgendwann, dem Drogensumpf zumindest teilweise zu entkommen und wurde somit zum Aushängeschild für Anti-Drogen-Kampagnen in aller Welt. Über Deutschland hinaus kam die Verfilmung von Uli Edel wohl auch deshalb zu Ruhm, weil darin David Bowie bei einem Konzert in Berlin zu sehen ist. Sein damaliger Hit „Heroes“ war der Titelsong des Films. Bowies Status als Superstar sorgte dafür, dass die Welt dieses einzigartige Kino aus Deutschland zur Kenntnis nahm und darüber diskutierte.
Neu gedacht und total verhunzt!
Ich denke, dass Natja Brunckhorst mit ihren Henna-Haaren, Parka und Palästinenser-Feudel einen der besten Looks der Filmgeschichte hatte und dass die Straßenmode, der Junkie-Style (sack-enge Jeans, knappe Cordjacken, Kunstleder, Kamm in der Arschtasche, riesige Umhängetaschen, Kaninchenfelljacke usw.) im Westberlin der späten 1970er unschlagbar ist. Man muss bei solch einer Stilvorlage schon ziemlich behämmert sein, um das Thema „neu zu denken“ – besser gesagt total zu verhunzen. In dieser „neu gedachten“ Serien-Verfilmung von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ stimmt rein gar nichts. Eine Ära wird zur Freak-Show in Werbeästhetik degradiert. Die Produktion erzählt nichts über Jugend und stellt eine lebensverachtende Drogensucht als hippe Party dar. Ein Meilenstein der bundesrepublikanischen Kulturgeschichte, ein Kultbuch meiner Jugend, eine authentische Erfahrung, die wirklich für Millionen von Jugendlichen unglaublich wichtig war, wurde völlig homogenisiert und zur Monokultur geglättet. Das Ganze ist einfach nur dummdreist, verlogen und lahm, und grenzt rotzfrech an eine ideologische Propaganda. Um zu erklären, warum ich auf diese Art von „neu gedachten“ Serien und Filmen wirklich eimerweise kotzen könnte, muss ich etwas ausholen.
Genauso wie Christiane gehöre ich zur Generation X. In meiner Welt wurden Kinder-Nutten noch von Kindern wie von der 13-jährigen Jodie Foster in Martin Scorseses „Taxi Driver“ (1976) oder von der zwölfjährigen Brooke Shields in Louis Malles „Pretty Baby“ (1978) gespielt. Mit 14 oder 15 hatten wir Geschlechtsverkehr und betrachteten uns als erwachsen. In vielerlei Hinsicht wurden wir uns meistens selbst überlassen. Viele, die ich kannte und mochte, wollten nie alt werden, keinen Beruf, keine Zukunft haben. Die Härte und der Pessimismus von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ war sowohl soziologisch, aber auch popkulturell ein Zeitphänomen. So fühlten sich viele von uns damals.
Dass diese Serie stilistisch und dramaturgisch so grottenschlecht ist, kratzt mich nicht wirklich. Es kratzt mich auch nicht, dass sie nicht „authentisch“ oder zeitgetreu ist. Was mir aber tierisch auf den Sack geht ist die Tatsache, dass diese Ära meiner Jugend, die ich als Zuschauer und Akteur live miterlebte, durch ihre audio-visuelle Effekte mit ihren pseudo-schockierenden Szenen und surrealen Einfällen zu einer Freak-Show degradiert wurde. Oder besser für ein aufgeblasenes Karneval-Diversity-Spektakel herhalten muss. Jede Sekunde ist wie ein einziger Werbespot aufgeregt und überhöht. Ständig ein treibender Soundtrack, der von superlauten Soundeffekten unterbrochen wird, wenn es richtig zur Sache gehen soll.
In dieser neuen Fassung ist Berlin superbunt. Nicht das trübe, deprimierende alte Tanten-Berlin, nicht die „Endzeitstimmung“ in Christianes Jugend wird erzählt. Es ist ein elektronisches Retro-Mitte-Berlin, eine zeitlose, bemüht künstlerische aber dann doch zu ambitionierte und arschverkniffene Zone. Überall flackern bunte Neonlichter, das Sound sieht aus wie eine Techno-Disco. Die Leute tragen Top-Shop-Wave- Klamotten und tanzen zwar Pogo-mäßig, aber dennoch schäfchenhaft lieb herum. Auch der in den späten 1970ern total abgerockte und von Tauben vollgeschissene Bahnhof Zoo hat einen heiteren Wave-Arthouse-Anstrich bekommen.
Digitales Theater, Gucci-für-Arme-Kostüme, grundloses Getanze und Gedudel. Keine klarere Sicht auf die Gegenwart unserer super süchtigen Gesellschaft. Die Story erzählt nichts über die Front-Stadt West-Berlin, atomare Bedrohung, Punk, Feminismus, das Gefühl von Untergang und Revolte. Es gibt keinen Blick auf eine Jugend, die damals eben nicht zwischen Arbeit und Freizeit wählen wollte. Man wollte ganz und gar leben oder sterben, lieber draufgehen, als dieses stinknormale Leben so weiter mitzumachen. Die Leute waren Full-Time- Punks und Full-Time-Junkies.
Zeitzeugen kriegen Brechreiz und ein jüngeres Publikum ist begeistert.
Das Martyrium der Kinder vom Bahnhof Zoo klingt nach einer Challenge, die man, vielleicht nicht ganz so krass, selbst antreten könnte. Drogensucht wird wie eine hippe Party dargestellt, die man besuchen und verlassen kann. Als eine Art extremes Freizeitvergnügen zu dem man doch glatt mit seiner eigenen Tochter mal hingehen könnte? Hauptsache man sieht geil aus und kann mitreden. Um die Erfahrung von psychoaktiven Drogen zu inszenieren wird zwar zwischen den Realitäten hin- und her gesprungen, aber niemals Stellung bezogen. Stattdessen wird der Kontrast zwischen dem allgemeinen Gefühl von Langeweile und der Flucht in eine Parallelwelt dargestellt. An wen richtet sich das
alles? An die Generation der Leser von damals? Oder an Jugendliche mit der Empfehlung, die Schullektüre ihrer Eltern und das Elend der Fixer für sich zu entdecken? Versucht wird beides. Das Publikum soll sich seine eigene Meinung bilden.
Produzent Oliver Berben sagt über seine Serie, dass die Geschichte im Grunde davon handelt, „wie junge Menschen versuchen, ihren Platz in dieser Welt zu finden. Und diese Welt ist hart und brutal.“ Christiane meinte einst, dass ihr der Abstieg in die Welt der Drogen eine Flucht aus ihrer zerrütteten Familie ermöglichte: „Ich war als Kind so einsam. Ich wollte einfach dazugehören.“ Für die Sehnsüchte der Kids wurde eine starke Bildsprache gefunden, die kräftig ins Klo des Surrealismus greift: Da liegen plötzlich schneebedeckte Berge hinter der Hochhaus-Betonbrüstung und fliegen Menschen über die Tanzfläche. Weil es grad so schön ist!? Ein wärmendes Kaminfeuer brennt in einem Bungalow, der auf einem Minimeteor durch die Sphären des Weltalls schwebt.
Klar ist auch die heutige Welt in vielerlei Hinsicht hässlich, scheiße, gemein und brutal, aber was hat die Aussage zur Identitätssuche damit zu tun, dass sich die Kids von heute, wahrscheinlich mehr denn jemals zuvor, gefühlt und tatsächlich in vielerlei Hinsicht einfach nur alleine gelassen fühlen? Nichts dazu gelernt!?
Wasch mich, aber mach mich nicht nass!
Ja, die Kids, die Gesellschaft, wir alle sind für unseren Lebensentwurf selbst verantwortlich. Für unsere Drogensucht, unsere Looks, unsere Jobs, unser Bankkonto, ob wir arm, reich, schön oder hässlich sind. Schließlich sitzt auch Christiane in der VIP-Lounge neben einem Bowie-Abklatsch über den Wolken. Befreit von lästiger sozialer Realität, weil sie sich schön neoliberal neu gedacht und vermarktet hat; – Unsterblich halt!
Genau wie die Lounge da oben, ist auch das fiktive Berlin da unten völlig willkürlich, frei von Geschichte, Diskursen, Fakten, Mitgefühl. Diese Christane F.-Welt korrespondiert mit nichts außer dem Selbstverwirklichungswillen ihrer Schöpfer, die fest entschlossen sind, mit allen Mitteln einen internationalen Blockbuster zu fabrizieren. Die Fixer*innen sehen aus wie Models, die Zeiten und Looks vermischen sich für den Kick, den Augenblick, einfach weil ihre Schöpfer es so wollen.
Auf den Gedanken, die Serie habe irgendetwas über die heutige Jugend zu erzählen, wird man aber wohl auch nicht in vierzig Jahren kommen. Das liegt daran, dass die Serie, ohne wirkliche Gegenleistung, vom Nimbus des Buches profitieren will; denn ohne diesen Nimbus ließe sie sich kaum verkaufen.“
Die Geschichte wird aus einer sicheren Warte von Spießern für Spießer erzählt. Die Macher erzählen sie nicht auf Augenhöhe mit ihren Figuren, sondern aus der privilegierten Perspektive des Privatjets, der über den Dingen kreist. Sie fühlen sich, wie ihre Filmheldin Christiane, unsterblich. Sie sind Götter aus Wuppertal oder Hannover, die nie abstürzen, die bei allem Hedonismus immer auf der Spur geblieben sind und keine Loser sein wollten.
Vielleicht sind sie mal nach Goa gefahren, sind in Therapie gegangen oder haben den Jakobsweg erwandert. Sie sind ins Berghain gekommen oder auch nicht. Sonntags, beim Kaffeeklatsch mit Kindern, haben sie vielleicht schon mal die Brownies stehenlassen, sind mit den anderen in der Küche oder im Klo verschwunden, um sich eine Line reinzuziehen. Nicht die Geschichten machen sie high, sondern die Macht und Machbarkeit, mit der sie erzählt werden können. „Die Besetzung, die Atmosphäre und die Machart der Serie haben eine vergleichbare Wirkung wie eine Droge“, sagte der Produzent Oliver Berben in einem Interview.
In der Neuverfilmung wurde eine völlig subjektive Parallelwelt erschaffen, die nur wahr ist, weil man es so will. Man hat keine Verpflichtung gegenüber der Wirklichkeit, man schafft sie sich. Die realen historischen oder biografischen Zusammenhänge und Ereignisse werden als kommerzielle Schlachtplatte genutzt und zu einer neuen Kunstform der Unterhaltung deklariert. Unten gehaltener Trash der in einem kunterbunten, hybriden, bereinigten Paralleluniversum spielt. /rb